Urteilsbesprechung, des Urteils Nr. C-393/23 (Macedonian Thrace Brewery SA / Heineken NV und Athenian Brewery SA)
- Saskia Porta, LL.M.
- 19. Juni
- 4 Min. Lesezeit
I. Einleitung
Die Entscheidung des EuGH vom 13. Februar 2025 befasst sich mit der internationalen Zuständigkeit bei Schadensersatzklagen wegen Kartellrechtsverstößen und der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Muttergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft haftbar gemacht werden kann. Im Mittelpunkt steht die Auslegung des Begriffs „Unternehmen“ im Sinne von Art. 102 AEUV sowie Art. 8 Nr. 1 der Brüssel-Ia-Verordnung (VO [EU] Nr. 1215/2012). Die Entscheidung hat praktische Bedeutung für die effektive Durchsetzung von Kartellrechtsverstoßen auf europäischer Ebene.
II. Die Entscheidung
1. Sachverhalt
Die Macedonian Thrace Brewery SA (MTB) erhob in Griechenland eine Schadensersatzklage gegen die Athenian Brewery SA (AB), eine Tochtergesellschaft der niederländischen Heineken NV, wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung im griechischen Biermarkt. Gleichzeitig verklagte MTB auch die Muttergesellschaft Heineken in den Niederlanden auf gesamtschuldnerischen Schadensersatz. Grundlage waren Wettbewerbsverstöße, für die AB 2017 von der griechischen Wettbewerbsbehörde mit einer Geldbuße belegt wurde.
Nachdem MTB Klage gegen Heineken vor niederländischen Gerichten eingereicht hatte, stellte sich die Frage, ob diese Gerichte international zuständig seien. Der Hoge Raad der Niederlande legte dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1. Kann Heineken als Muttergesellschaft nach Art. 8 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO in den Niederlanden verklagt werden?
2. Ist sie als „Unternehmen“ im Sinne von Art. 102 AEUV für das Verhalten ihrer Tochter haftbar?
2. Rechtsproblem
Zentral ist das Zusammenspiel von Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel-Ia-VO mit dem kartellrechtlichen Unternehmensbegriff. Es geht darum, ob bei einer Klage gegen eine Muttergesellschaft im Ausland wegen Wettbewerbsverstößen der Tochter eine „enge Verbindung“ im Sinne von Art. 8 Nr. 1 besteht, die eine gemeinsame Verhandlung rechtfertigt, und ob die Mutter als Teil desselben „Unternehmens“ für das Verhalten der Tochter haftbar ist.
3. Lösung des Gerichts
Der EuGH beantwortete beide Vorlagefragen zugunsten von MTB:
• Internationale Zuständigkeit: Es besteht eine enge Verbindung zwischen den Klagen gegen Tochter- und Muttergesellschaft. Daher ist es nach Art. 8 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO zulässig, beide Gesellschaften gemeinsam vor dem Gericht zu verklagen, das für die Tochtergesellschaft zuständig ist – in diesem Fall also vor griechischen Gerichten. Dadurch soll verhindert werden, dass in getrennten Verfahren möglicherweise widersprüchliche Entscheidungen ergehen.
Klarstellung: Im konkreten Fall hatte MTB die Tochtergesellschaft (AB) in Griechenland und die Muttergesellschaft (Heineken) separat in den Niederlanden verklagt. Der EuGH entschied, dass es auch zulässig gewesen wäre, Heineken gemeinsam mit der Tochtergesellschaft in Griechenland zu verklagen. Die Entscheidung schafft damit eine sinnvolle Möglichkeit zur gebündelten Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber konzernverbundenen Unternehmen.
• Haftung der Muttergesellschaft: Die Muttergesellschaft kann haftbar gemacht werden, wenn sie einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt. Beide bilden dann eine wirtschaftliche Einheit, also ein „Unternehmen“ im Sinne von Art. 102 AEUV. Damit kann auch die Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch für den verursachten Schaden haften.
III. Analyse
1. Lösungsansätze zum Problem
Bevor die Entscheidung des EuGH im vorliegenden Fall getroffen wurde, wurden in Rechtsprechung und Literatur verschiedene Ansätze zur Lösung der aufgeworfenen Rechtsprobleme vertreten. Dabei standen insbesondere zwei Fragen im Zentrum: 1. Unter welchen Voraussetzungen liegt eine „enge Verbindung“ im Sinne von Art. 8 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO vor? und 2. Wann kann eine Muttergesellschaft haftbar gemacht werden für das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft im Sinne des Wettbewerbsrechts?
Zur internationalen Zuständigkeit (Art. 8 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO):
• Restriktive Auslegung: Vertreter dieser Auffassung (v.a. in der deutschen Literatur) verlangen eine besonders enge Verbindung zwischen den Ansprüchen, etwa ein einheitliches Verhalten oder eine objektiv rechtliche Untrennbarkeit. Ziel ist es, den Ausnahmecharakter der Zuständigkeitsregel zu bewahren und „forum shopping“ zu vermeiden.
• Weite Auslegung (EuGH-Linie): Der EuGH geht seit dem Urteil Cartel Damage Claims (C 352/13) davon aus, dass bereits eine reale Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen genügt, um die Voraussetzungen einer engen Verbindung zu bejahen.
Zur Haftung der Muttergesellschaft (Art. 102 AEUV – wirtschaftliche Einheit):
• Formale Haftungstheorie: Diese Ansicht betont die rechtliche Selbstständigkeit von Mutter- und Tochtergesellschaft und lehnt eine automatische Durchgriffshaftung ab. Nur bei eigener Beteiligung der Muttergesellschaft sei eine Haftung denkbar.
• Konzept der wirtschaftlichen Einheit (EuGH-Rechtsprechung): Bereits seit Akzo Nobel (C 97/08) wird der Begriff des „Unternehmens“ funktional verstanden. Ein beherrschender Einfluss der Muttergesellschaft auf die Tochter reicht aus, um beide als einheitliches Unternehmen zu betrachten und gesamtschuldnerisch haften zu lassen.
2. Analyse und Einordnung der Entscheidung
Die Entscheidung steht im Einklang mit der bisherigen EuGH-Rechtsprechung (vgl. C-97/08 Akzo Nobel) zum Kartellrecht und zur Zuständigkeitsordnung. Der Gerichtshof stärkt die private Rechtsdurchsetzung durch einen effektiven Rechtsschutz gegenüber Unternehmensgruppen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise betont die praktische Effektivität des Wettbewerbsrechts über formale Grenzen hinweg.
3. Bewertung und Kritik der Entscheidung
Durch die Weiterführung der bisherigen europäischen Rechtsprechung hat diese Entscheidung insbesondere zwei positive Aspekte: • Sie verhindert forum shopping durch Konzernstrukturen.
• Sie stärkt die Effektivität der kartellrechtlichen Sanktionen.
Negativ ist anzumerken, dass die wirtschaftliche Betrachtung zu Haftungsrisiken führt, die Muttergesellschaften schwer kalkulieren können. Zudem besteht die Gefahr überdehnter Zuständigkeitstatbestände – insbesondere bei „Klagenketten“.
Diese Gefahren möglicher negativer Folgen rücken allerdings im Hinblick auf eine effektive Durchsetzung des europäischen Kartellrechts in den Hintergrund. Die Entscheidung ist daher im Ergebnis zu begrüßen.
4. Eigener Lösungsvorschlag
Die Entscheidung überzeugt im Ergebnis. Für die Praxis sollte jedoch ein klarer Kriterienkatalog entwickelt werden, anhand dessen der bestimmende Einfluss konkretisiert werden kann. Dies würde zur größeren Rechtssicherheit beitragen.
5. Ausblick
Die Entscheidung wird künftig maßgeblichen Einfluss auf Kartellschadensersatzprozesse gegen Konzernunternehmen haben. Die Kombination aus weitem Unternehmensbegriff und flexibler Zuständigkeitsauslegung stärkt Kläger und erhöht den Compliance-Druck auf Muttergesellschaften innerhalb der EU. Nationale Gerichte müssen diese Maßgaben bei der Auslegung des Art. 8 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO künftig beachten.
IV. Schluss
Der EuGH erweitert mit dem Urteil C‑393/23 seine gefestigte Rechtsprechung zur Haftung von Unternehmensgruppen und zur gerichtlichen Zuständigkeit bei konzerninternem Fehlverhalten. Die Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf das europäische Kartellrecht, das Zivilprozessrecht und die Konzernverantwortlichkeit. Sie setzt ein deutliches Signal zugunsten der Durchsetzbarkeit des Wettbewerbsrechts und stärkt die Position geschädigter Marktteilnehmer.
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